Diese Reportage habe ich ca. 1985 für die Zeitschrift „Weltbild“ geschrieben, bei der ich mein journalistisches Volontariat absolviert habe. Das Foto von mir als Bettler hat Bernd Müller in der Münchener Fußgängerzone gemacht. Besten Dank dafür und für die Freundschaft und Unterstützung bis heute.

Als Bettler in der Fußgängerzone

Wie oft bin ich an einem Bettler vorbeigelaufen, habe mir überlegt, ob ich ihn zum Essen einladen oder ihn nach seiner Lebensgeschichte fragen soll. Aber nie fand ich den Mut, einen anzusprechen.

Jetzt sitze ich selbst da unten auf dem kalten Boden. Zwischen meinem Hinterteil und dem Kopfsteinpflaster die heutige Ausgabe der Süddeutschen Zeitung. Das Thermometer zeigt sieben Grad. Da freue ich mich über jeden Sonnenstrahl, der zwischen den Kaufhausfassaden durchbricht und die Nase kitzelt.

„Ohne Arbeit, ohne Wohnung. Ich bitte um eine kleine Spende. Danke“, steht auf meinem Pappkarton. Vor mir ein alter Lederhut.

Es dauert nicht lange bis das erste Markstück heruntergeworfen wird. Es kommt von einer Frau, wohl um die 50. Ich sehe sie nicht richtig, denn aus meiner Perspektive haben die vorbeigehenden Menschen nur Beine. Wenn ich den Kopf geradeaus halte, hören sie bei den Knien auf. Ich schaue der Frau nach.

Vielleicht eine Viertelstunde lang passiert nichts mehr. Die Passanten klingen nun wie marschierende Truppen oder trampelnde Pferde, je nachdem, wie sie ihren Schrittrhythmus zufällig in Einklang bringen.

„Ohne Arbeit, ohne Wohnung – ist schon schlimm“, sagt eine ältere Dame zu ihrer Begleiterin. Sie hält einen Moment ihren Gang an, schaut auf mein Schild, geht weiter – ohne etwas zu geben.

Eine halbe Stunde ist vergangen. Mein Hut wird voller. Meist klimpern Markstücke, manchmal auch ein „Zwickel“, selten „Zehnerl“, und wenn, dann vier, fünf, sechs auf einmal.

Ich weiß langsam nicht mehr, wie ich meine Beine im Schneidersitz halten soll. Sie schmerzen. Ich lege sie zur Seite. Aber schon nach ein paar Minuten wird auch diese Stellung unbequem. Wieder Schneidersitz.

Ein Ausländer mittleren Alters sieht mich, bekleidet mit einer Wollmütze, mehreren übereinander getragenen T-Shirts, einer alten Jeansjacke, abgewetzter Hose und Bundeswehrstiefeln am Boden sitzen. Er kommt auf mich zu. „Ist kalt. Schal umbinden“, sagt er und reicht mir seinen. Ich bin so verblüfft, dass ich nicht gleich reagiere. „Schal umbinden“, wiederholt er. Ich nehme ihn, lege ihn um den Hals und verknote ihn. Der Mann nickt zufrieden.

Die Leute gehen weiter an mir vorbei. Manche machen einen Ausfallschritt vor meinem Hut, um mir nicht zu nahe zu kommen. Andere rennen direkt darauf zu und heben im letzten Moment im Gehen das Bein hoch, um ihn nicht umzustoßen. Ich ziehe ihn näher an mich heran.

„Ohne Lust zu arbeiten“, ruft mir ein junger Mann nach, der mit einer ganzen Clique Gleichaltriger durch die Fußgängerzone streift. Wenn ich jetzt tatsächlich arbeitslos wäre, mich vielleicht den ganzen Vormittag beim Arbeitsamt angestellt hätte – ich glaube, dann würde ein solch unbedacht geäußerter Spruch hart treffen.

Ich habe das Gefühl, wie ein Mensch zweiter Klasse behandelt zu werden. Aggressiv verhält sich zwar niemand, aber allein diese Erniedrigung, den anderen zu Füssen zu liegen. Oder der Moment, wenn jemand eine Münze in den Hut wirft. Das sieht aus, als wolle er Dir die Hand reichen. Er zieht sie aber im letzten Augenblick weg und nur das Geldstück gehört Dir.

Nur ein einziger Mann unterhält sich länger mit mir. Es ist ein Losverkäufer, der seinen fahrbaren Stand zwanzig Meter von mir entfernt aufgebaut hat. Er gibt mir den Tipp, zur Caritas zu gehen. „Eine Suppe und ein Stück Brot“ könnte ich dort jeden Mittag bekommen.

Als ich nach rund eineinhalb Stunden aufstehe, geht es mir wie einem Fohlen, das zum ersten Mal auf den Beinen steht. Das Gefühl ist weg, ich stolpere die ersten Schritte mehr, als dass ich gehe. Die Kälte und die unbequeme Sitzweise haben sich schon nach kurzer Zeit bemerkbar gemacht.

Nach einer Pause wechsle ich den Standort. Da ist wieder der Moment, den ich als den schlimmsten empfinde: Ich gehe in der Menschenmasse, falle mit meinem Schild und dem Hut unter dem Arm nicht auf. Aber ich muss mich herauslösen aus der Menge, muss mich zu erkennen geben. Stehen bleiben. Hinsetzen. Schild und Hut vor mir aufbauen. Das kostet Überwindung. Das Sitzen selbst ist gar nicht so schlimm. Da habe ich meine Identität: „Ohne Arbeit, ohne Wohnung. Bitte um eine kleine Spende. Danke.“

P.S. Das beim Betteln „verdiente“ Geld und den Schal habe ich der Wärmestube der Caritas in Augsburg übergeben.